Hermann Hildebrandt Collage

Veröffentlichungen

Am 1. Oktober 1972 schrieb Hermann Hildebrandt einen Leserbrief an die Wochenzeitung „Die Zeit“, in dem er sich auf einen Artikel vom 22. September 1972 zum Thema Musikernachwuchs bezog.

[…] Am Schluß des Artikels wird von der Kapellmeister-Ausbildung gesprochen. Der Autor stellt lediglich fest, es gebe „viel zu viele junge Leute, die ans Pult wollen“ und es sei fast aussichtslos, als junger deutscher Dirigent Karriere zu machen. […]

Seit vielen Jahren, um nicht zu sagen Jahrzehnten, werden diese Fragen diskutiert, reisen Studienkommissionen in weite Ferne, wird offen auf die bessere Ausbildung im Ausland, insbesondere in den Ostblockländern hingewiesen.

Es wäre wohl in erster Linie Sache der deutschen Hochschulen, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. An Begabungen mangelt es in der Bundesrepublik mit Sicherheit nicht. Aber: entspricht der hierzulande geübte Ausbildungsmodus noch den Anforderungen unserer Zeit?
Noch immer werden z.B. Dirigierschüler vorwiegend am Klavier und nur selten vor Orchestern ausgebildet. Häufig werden nicht einmal bei Hochschulkonzerten oder Aufführungen der Opernklassen die Studenten ans Pult gelassen.

Interessant wäre eine Statistik, wie viele Dirigenten etwa in den letzten zwanzig Jahren in den (teuren) Hochschulklassen der Bundesrepublik ausgebildet wurden und was aus ihnen geworden ist. Irgendwo müssen sie doch geblieben sein.

In der freien Wirtschaft würde im Falle der nachgewiesenen Unrentabilität eigener Herstellungsstätten die Produktion eingestellt. Es gibt in der Bundesrepublik mindestens ein Dutzend Dirigentenklassen, deren Absolventen in die Praxis entlassen werden. Nun sollten „Gesellenjahre“ folgen, in denen die jungen Dirigenten an der Hand erfahrener Könner allmählich zu „Meistern“ werden, im Laufe der Zeit dann auch reif für Spitzenpositionen.

Verantwortungsbewußte Förderung nach dem Studium ist ein wesentlicher Bestandteil jeder künstlerischen Entwicklung. In den Ostblockländern weiß man das, bei uns offenbar nicht. So bleiben die „Halbfertigprodukte“ made in Germany auf der Strecke. Die Fertigprodukte werden importiert. Können, wollen wir uns das leisten? […]