Ein Leben für die Musik
Hermann Hildebrandt, geboren am 10. Mai 1910 in Strassburg, war einer der Begründer und langjähriger Leiter des „Berliner Sinfonieorchesters“ (heute „Konzerthausorchester“) und übte von 1952 bis 1959 entscheidenden Einfluß auf das (Ost-) Berliner Musikleben aus. 1961 übernahm er als GMD die Leitung der Nordwestdeutschen Philharmonie in Herford und wurde später Dirigent und Berater bei der Hauptabteilung Theater und Musik des ZDF. Am 11. November 1982 starb er in Bad Ingelheim.
Bei Paul Baumgartner und Hermann Abendroth hatte Hildebrandt von 1931 bis 1934 in Köln und Berlin studiert; er trat zunächst in den Schuldienst ein, 1940 folgte der Militärdienst. Zwischen beidem liegt das künstlerische Initial-Erlebnis. 1940 darf der engagierte Chorleiter und Liedbegleiter ein Sinfoniekonzert in Bonn leiten. Er erkannte seine dirigentische Berufung, die er jedoch in den Kriegsjahren nicht zu entfalten vermochte. 1944 geriet er in amerikanische Gefangenschaft, wo er zunächst in einer Band seine Fähigkeiten im Bigband-Genre bewies, ehe seine Stunde schlug. 1946 erhielt er in Stuttgart ein Engagement als Chef der Stuttgarter Philharmonie. Das brachte erste Erfolge, doch als die Währungsreform einen Teil des Orchestervermögens vernichtete, verließ er das Orchester und ging notgedrungen wieder in den Schuldienst. Dort ereilte ihn 1951 ein Angebot aus Berlin. Das erst noch zu gründende Berliner Sinfonieorchester“ suchte einen Chef und lud ihn zum Vordirigieren ein. Zu verdanken hatte er das dem Filmkomponisten Herbert Trantow, der damals bei der DEFA in Potsdam-Babelsberg arbeitete. Hildebrandt gefiel den Musikern, sie bestimmten ihn zum neuen Chef, und 1952 begann seine erste Saison. Der Wechsel in die Vier-Sektoren-Stadt war auch eine politische Entscheidung, die zur Folge hatte, daß er nolens volens in das bürokratische Räderwerk des Kalten Krieges und der rasant fortschreitenden politischen Teilung der Stadt geriet. Er antwortete mit politischer Indifferenz aus der Überzeugung, daß die deutsche Kultur diese politischen Wirren letztlich überstehen würde und daß er in seiner Position dazu einen Beitrag leisten könnte.
Sein erstes Konzert könnte man verwegen nennen, denn auf dem Programm des noch unerprobten Klangkörpers setzte er zwei äußerst anspruchsvolle Werke - das 4. Brandenburgische Konzert G-Dur BWV 1049 von Johann Sebastian Bach und die 8. Sinfonie von Anton Bruckner. Beide Komponisten standen auch in den kommenden Jahren im Zentrum seines Wirkens. Anders als die traditionsreiche Berliner Staatskapelle und die Philharmonie hatte sich das neue Orchester, das von einem alten und längst von der Bildfläche verschwundenen Orchester den Namen übernahm, in den Nachkriegsjahren aus zwei zusammengewürfelten kleinen Unterhaltungsorchestern konstituiert, dessen Musiker Kriegsheimkehrer waren, die nun neuen Halt und Lebensunterhalt suchten. Binnen kurzer Zeit wurde dank Hildebrandts erzieherischer Arbeit aus der Zufallskapelle ein leistungsfähiges und engagiertes Orchester, das das sinfonische Repertoire von der Klassik bis zur Moderne beherrschte und das Ostberliner Konzertleben bestimmte. Man musizierte an wechselndes Spielorten, ein festes Haus gab es noch nicht, und ein Novum bestand darin, daß es als erstes Berliner Sinfonieorchester auch in den neuen Kultursälen der Großbetriebe auftrat.
Hildebrandts Programm-Schwerpunkte waren Bach, Beethoven; Bruckner, Brahms. Daneben erschienen Hindemith und Prokofjew, Strawinski und Schostakowitsch, Bartók und Paul Dessau, Schönberg und Rudolf Wagner-Régeny – eine nicht verständliche Mischung „östlicher“ und „westlicher“ neuer Musik. Das war zu Zeiten des Kalten Krieges und der Kontroversen zwischen den Vertretern des „sozialistischen Realismus“ und des „Avantgardismus“ ungewöhnlich und trug ihm teils heftige Kritiken und Querelen ein. Er bemühte er sich um das chorsinfonische Repertoire und den Aufbau eines Philharmonischen Chores, was allerdings mißlang. Doch die Kantaten und Oratorien Johann Sebastian Bachs, die Messen und Requien von Mozart, Haydn, Brahms u.a. wurden Schwerpunkte seines Programms, er führte sie mit Chören aus Potsdam und Westberlin auf.
Nicht alles, was er wollte, konnte er spielen. Strawinskis „Le sacre du printemps“ wurde ihm verboten. 1957 wollte Alexander Abusch, damals stellvertretender Kulturminister, das Orchester sogar auflösen und Hildebrandt entlassen, doch die Akademie der Künste und Abuschs Mit-Stellvertreter Hans Pischner (später Intendant der Deutschen Staatsoper Berlin) entfachten eine Protestwelle und vereitelten das Projekt. 1959 wurde Hermann Hildebrandt endgültig ein Opfer des Kalten Krieges. Er hatte, wie auch viele seiner Musiker, seinen Wohnsitz in West-Berlin behalten und erhielt einen Teil seiner Gage in DM-West (500,- DM von der Gesamtgage von 3 000,- Mark). Nun forderte der Magistrat von ihm wie allen Westberliner Künstlern, daß sie ihren ständigen Wohnsitzt im Ostteil der damals zwar schon geteilten, aber noch nicht vermauerten Stadt nähmen. Hildebrandt weigerte sich und kündigte. Sein letztes Konzert hatte das gleiche Programm wie sein erstes – Bach und Bruckner.
Seine Kündigung erregte Aufsehen. Die Westberliner Presse beklagte den Weggang des Dirigenten und den kulturpolitischen Dogmatismus des Ostens. Aber anders als erwartet stieß Hildebrandt nun in Westberlin auf verschlossene Türen. Als „Ost-Dirigent“ war er einst gelobt und willkommen gewesen, nun, da sein Engagement beendet war, fand man, es verstieße gegen irgendeinen nirgends fixierten Ehrenkodex. Der SFB kündigte sofort einen vorher abgeschlossenen Vertrag für eine Rundfunkproduktion. Zu seiner Verblüffung fand sich Hildebrandt auf der Straße wieder. In jenen Jahren des Kalten Krieges existierte ein gegenseitiges Auftrittsverbot der jeweiligen Kulturverwaltungen, das heute kurios anmutet. Ostberliner Künstler traf es im Westen, Westberliner im Osten. Hildebrandt wurde eines der Opfer. Sein Engagement für die unpolitische Kulturnation scheiterte nicht nur am Ostberliner Magistrat, der ihm zwar ein Wohnungs-Ultimatum stellte, aber trotzdem ungern ziehen ließ, sondern auch an der Ausgrenzungspolitik des Westberliner Senats. Das war bitter.
Hermann Hildebrandt, nunmehr Emigrant im eigenen Land, verließ die Hauptstadt der Teilung. Das Orchester, das er aufgebaut und profiliert hatte, blieb jedoch und errang einige Jahre später unter seinem Nachfolger Kurt Sanderling, der Hildebrandts Programmpolitik fortsetzte, internationalen Ruhm. Zu einem Gastvertrag kam es in der Folge nicht mehr, obwohl er sich darum bemüht hatte; der Zugang zu seiner einstigen Wirkungsstätte blieb ihm von nun an „vermauert“. In der Bundesrepublik mußte er buchstäblich nochmals von vorn beginnen. Man behandelte ihn kaum als einen Berliner Dirigenten, der sich unter schwierigen Umständen einigen Ruhm erworben hatte. Zwei Jahre gingen ins Land, ehe Hildebrandt ein neues Engagement erhielt – er wurde Chef der Nordwestdeutschen Philharmonie Herford. Hier setzte er seine Berliner Programmpolitik fort, neben den Klassikern erschienen nun auch erstmals Werke von Prokofjew und Schostakowitsch in den Konzerten der auf ihre kulturellen Ambitionen stolze westfälische Provinzstadt. Doch die Herforder Provinz goutierte diese ungewohnten Ausflüge kaum, ebenso wie man vorher seinen Vorgänger Hermann Scherchen und dessen Programme nicht goutiert hatte, und bereits 1962 verlängerte Hildebrandt seinen Vertrag nicht, um allerdings in eine wesentlich attraktivere Position zu wechseln, in die des „Dirigenten und musikalischen Beraters im Range eines Abteilungsleiters“ des ZDF in Mainz. Zu verdanken hatte er die Berufung seinem alten Freund Karl Holzamer, dem ersten Intendanten des am 1. April 1963 gegründeten „Zweiten Deutschen Fernsehens“.
Hildebrandts Aufgabe solle es sein, der klassischen Musik in diesem elektronischen Medium einen angemessenen Platz zu verschaffen. Seine periodische Sendereihe stellte er unter ein Motto aus „Capriccio“, der letzten Oper von Richard Strauss: „Wie schön ist doch Musik“. Seine Konzerte waren nun nicht nur musikalische Ereignisse, sie waren auch Bildvorlagen für die Regisseure und Kameraleute, die das neue Genre des Fernsehkonzerts überhaupt erst beherrschen und meistern mußten. Sie setzten das Orchester in Phantasielandschaften, die Kameras begannen das
Instrumentarium zu durchwandern, und Bildmaterial aller Arten diente als Illustration. Dazu kam, daß Hildebrandt seine Konzerte auch moderierte. Die Konzerte fanden an wechselnden, aber immer attraktiven Orten statt, in der Rhein-Mosel-Halle Koblenz, der Berliner Philharmonie, dem Audimax der Hamburger Universität usw., so daß der Zuschauer einen optischen Eindruck von der westdeutschen Konzertlandschaft bekam. Seine Fernsehkonzerte waren Jahre hindurch wesentlicher Bestandteil des ZDF - Musikprogramms. Als Gast dirigierte er eine Reihe bedeutender Orchester: u.a. die Berliner Philharmoniker, das Radio Symphonieorchester Berlin, die Münchner Philharmoniker, das Orchester der Bayerischen Staatsoper (Plattenaufnahme mit Anneliese Rothenberger), die Bamberger Symphoniker, die Dresdner Philharmoniker, die Wiener Symphoniker. Die Riege der Solisten war prominent: Neben Anneliese Rothenberger auch René Kollo, Hermann Prey, Branka Musilin, Ricardo Odnoposoff, Sylvia Geszty, Wolfgang Marschner und viele andere.
Der Dirigent kam jedoch bald mit den Programmdirektoren in Konflikt, und ein jahrelanger Kleinkrieg hinter den Kulissen entspann sich, der erst mit Hildebrandts Pensionierung im Jahre 1975 endete. Die Ursache lag in den niedrigen Einschalt-Quoten. Der Anteil der Klassischen Musik am Gesamtprogramm des ZDF betrug damals 1,5 %, die Zuschauer-Resonanz überstieg trotz positiver Presseberichte selten 7%. (Das dürfte sich seither kaum geändert haben.) Seine aktive Fernsehperiode währte deshalb auch nur vier Jahre, von 1964 bis 1968. Danach wurden die Sendungen und Übertragungen seltener, und Zeit blieb für anderes. Das wichtigste war das türkische Intermezzo. Zu den Höhepunkten seiner Laufbahn gehörte die Leitung der Devlet-Opera Istanbul in den Jahren 1969/70, wo Hildebrandt u.a. Verdis „Othello“ und die Oper „Midisan Kulaklari“ des türkischen Komponisten Ferit Tüzün herausbrachte.
„Wie schön ist doch die Musik“ hieß es bei Richard Strauss, die unausgesprochene Fortsetzung erwies sich als böse Prophetie: „Wie schön, wenn sie erst vorbei ist“. Das kam zwar nicht, aber die ZDF-Periode endete 1975 wie die Periode in Berlin – eher mit einem stillen Abschied als mit einem Triumph. Hermann Hildebrandt wurde nie die Würdigung zuteil, die er verdiente: Als ein Inspirator einer anspruchsvollen Konzertkultur im geteilten Nachkriegsberlin und als ein Initiator klassischer Konzertsendungen im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland.
Die letzten Lebensjahre waren mit schriftstellerischer und musikdramaturgischer Arbeit gefüllt. Er schuf eine neue Übersetzung der Oper „Thais“ von Jules Massenet sowie von Liedern und Arien von Mussorgski, Godard u.a., ferner eine Kurzfasssung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“, und er gab den Karikaturenband „Operntypen“ von Gustav Kölle neu heraus. Hermann Hildebrandt hat sich ferner für praxisorientierte und zeitgemäße Ausbildung des Dirigentennachwuchses engagiert und vor allem weitergehende Förderung junger Dirigentinnen und Dirigenten nach deren Hochschulabschluss verlangt. Dieser Idee ist die 1990 von seiner Tochter Regine Hildebrandt in Mainz gegründete Hermann-Hildebrandt-Stiftung verpflichtet.
Hermann Hildebrandt starb 1982 im Alter von 72 Jahren in Bad Ingelheim.
Seine Tochter Regine rief 1990 die Hermann Hildebrandt-Stiftung ins Leben, die sich der Förderung junger Dirigenten zur Aufgabe gemacht hat.
Gerhard Müller