Die Berliner Jahre aus Sicht Hermann Hildebrandts

Am 14. August 1959 schrieb Hermann Hildebrandt:

Als ich im Jahre 1952 die Leitung des Städtischen Berliner Sinfonieorchesters übernahm, tat ich das, weil sich gleichwertige Aufgaben und Entwicklungsmöglichkeiten mir in der Bundesrepublik nicht boten. Ich kannte die Spannungsverhältnisse zwischen Ost-und West-Berlin damals nur oberflächlich, meine Bemühungen waren ausschliesslich auf die Arbeit gerichtet, die ich, - obwohl vom Ostmagistrat abhängig, -von Anfang an in den Rahmen Gesamt-Berlins stellte. Innerhalb des Orchesters gab es niemals "Politisches" , über 60 Prozent der Musiker waren Westberliner, viele Absolventen der West-Hochschule fanden bei uns das erste Engagement, bei der Aufstellung der Programme und der Wahl der Solisten
war (ich) - ohne Rücksicht auf ausserkünstlerische Gesichtspunkte - um internationales Niveau bemüht. Meine einzige Sorge war, dem Orchester hinreichende Qualität zu geben, so, dass sein Weiterbestehen als Nachfolger des früheren städtischen Orchesters im Falle der Wiedervereinigung Berlins vom Künstlerischen her keinen Augenblick bezweifelt werden durfte.

Unparteiliches Verhalten ist indessen eine der unverzeihlichsten Sünden beim "Aufbau des Sozialismus". So blieb die Quittung nicht aus. Im Juni 1955 veröffentlichte das Ministerium eine Liste von 21 Instituten, deren leitende Dirigenten von den jeweiligen städtischen oder staatlichen vorgesetzten Dienststellen zum GMD ernannt werden durften. Der einzige, dem diese Ernennung trotz einer entsprechenden Magistratsvorlage versagt blieb, war ich. Dass auch andere staatliche Ehrungen und Förderungen unterblieben, versteht sich. Ich kam nie für einen National- oder anderen Preis in Frage, und wurde offiziell von Gastspielen im "befreundeten " Ausland und von der Leitung von Schallplattenaufnahmen ausgeschlossen. Drei Gastkonzerte in Budapest mit der dortigen Staatsphilharmonie im Jahre 1958 verdankte ich einer persönlichen Einladung Janos Ferencsiks.

Im Sommer 1957 wurde unser Orchester überraschend von der Stadt Iserlohn zur Eröffnung der Sauerland-Kulturwochen eingeladen. Der grosse Erfolg, den wir dort hatten, bewirkte 8 Einladungen mittlerer und grösserer westdeutscher Städte für das folgende Jahr. Obwohl alle Abmachungen bereits vertraglich bestätigt waren, verbot der Magistrat in letzter Minute diese Reisen. Es nutzte wenig, dass der RIAS am 1. Juli in seiner Sendung "Aus der Zone, für die Zone" diese und andere Schwierigkeiten unseres Orchsters propagandistisch auswertete.

In diesen Zusammenhang gehört auch das Verbot der Aufführung von Strawinskis
"le sacre du printemps" im September 1958, obwohl das Werk bereits angezeigt und probiert war. ich darf bei dieser Gelegenheit erwähnen, dass es das Städtische Berliner Sinfonieorchester war, welches durch seine im Grunde unerwünschten Aufführungen Strawinskischer Werke den "Fall Strawinski" bei den vom Ministerium einberufenen Dirigententagungen ins Gespräch brachte. Den Kollegen drüben waren Aufführungen auch anderer Werke der westlichen Moderne schon der fehlenden Devisen wegen nicht möglich. Ihre immer wiederkehrenden Fragen nch der finanziellen Realisierung solcher Aufführungen, konnte ich mit dem Hinweis auf eine eigene Notenkasse beantworten, die - aus regelmässigen Beiträgen der Westberliner Kollegen mit Westgeld gespeist, - es uns ermöglichte, westliche Lehrmaterialien zu erhalten, die den anderen Orchestern der DDR nicht zugänglich waren. Verständlich, dass Magistrat und Ministerium auch hierhin eine unerwünschte Initiative sahen.

Im Jahre 1952 gab es in Ost-Berlin keinen Oratorienchor und infolgedessen auch kaum Oratorienaufführungen. In Zusammenarbeit mit dem Städtischen Chor Potsdam unter seinem damaligen Leiter Prof. Landgrebe, vorübergehend auch mit dem Westberliner Staats-und Domchor unter Prof. Reimann führte ich jährlich wiederkehrende Aufführungen der Bach'schen Passionen, der h-Moll-Messe, der Totenmessen Mozarts, Brahms' und Verdis und des Bach'schen Weihnachtsoratoriums in der Marienkirche ein. Mit der Spielzeit 1958/59 wurden diese stets ausverkauften Aufführungen untersagt. Begründung: man könne nicht in einer Kirche, von deren Kanzel Bischof Dibelius Hass gegen den Arbeiter- und Bauernstaat predige, ein aus Mitteln ebendieses Staates subventioniertes Orchester spielen lassen. (Siehe " Musik und Gesellschaft", Juliheft 1958).

Schon im Februar 1958 hatte man mich wegen des Abdrucks des Textes der Bach'schen Solokantate "Geist und Seele sind verwirret" zur Rede gestellt und die wenige Wochen später vorgesehene Aufführung der Kantate "Jauchzet Gott in allen Landen" im Rahmen unseres Bach-Brucknerzyklus 1957-1958 nur unter der Bedingung gestattet, dass der Abdruck des Textes im Programm unterblieb.
Um eine Konzertaufführung der Oper "Hänsel und Gretel" im Dezember 1958 musste ich wegen der Schlussworte "Wenn die Not am höchsten steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht" stundenlang kämpfen.

Dass unter diesen Umständen der "westliche Einschlag" meiner Arbeitsweise auch offiziell mit Tadel bedacht wurde (im Deutschlandsender am 5.8. 1958 in der Sendung " Musik kritisch betrachtet" und im Aprilheft 1959 der Zeitschrift "Musik und Gesellschaft") versteht sich. Gelegentliche Anerkennungen von westlicher Seite taten ein übriges, um mir zu schaden. Heinz Joachim hob in der "Welt" vom 17.3. 59
("Extreme Zwölftonmusik in Ost-Berlin") "Mut und Initiative" meiner Programm-gestaltung hervor, H.H. Stuckenschmidt lobte in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" meinen "selbstständigen Willen in Programmfragen".
Ich bin fast 8 Jahre lang als Chefdirigent und Intendant in allen entscheidenden künstlerischen Fragen auf mich selbst gestellt gewesen. Ich habe also nicht anders handeln können als nach " bestem Wissen und Gewissen."